Paul Celan: Todesfuge


Lange bevor ich Genaueres über die Kunst der Fuge wusste, schien mir dieses schrecklich-schöne Gedicht bei der ersten Begegnung streng, aber auch leicht Ich war etwa 15, 16, wusste aber schon einiges über die Gräueltaten der Nazis, über Auschwitz. Mein erstes Empfinden war: Das Gedicht liest sich zu "leicht". Mit der Naivität eines Jugendlichen meinte ich, es inhaltlich eigentlich sofort zu "verstehen", deshalb mir ein Urteil über die Form erlauben zu können, ein Urteil, das sich später in Sekundärtexten zu bestätigen schien: Das Gedicht packt das Grauen in eine ästhetische Form.

Heute fällt mein Urteil anders aus und ist mir dieser Text besonders wichtig. Nicht nur, weil er uns in Anthologien ständig entgegentritt - diese Popularität würde einen anderen Text schnell "abtöten". Nicht nur, weil er es immer wieder schafft, im Unterricht mit SchülerInnen tatsächlich eine der seltenen Pausen zu stiften, in denen "die Zeit still steht" (Hilde Domin). Nicht nur, weil er Adornos Frage nach der Möglichkeit von Gedichten nach Auschwitz im extremsten Sinne bejaht, weil er diese Möglichkeit als Gedicht über Auschwitz zeigt. Sondern weil er - wie kaum ein anderer Text - für mich als Kristallisationspunkt fungiert hat, um den herum sich immer wieder neue, individuelle Leseerfahrungen wie Baumringe legen. Da wachsen Verstehensschichten heran und immer wieder gibt es neue Entdeckungen. Natürlich profitiert man dabei auch sehr von äußeren Anstößen. Einem dieser Anstöße aus der Sekundärliteratur entstammt das folgende Zitat:
 

"Geht man davon aus, dass Auschwitz das geschichtliche Ende der individuellen Humanität bedeutet - doch sie hat viele Enden, sie geht nicht auf einmal zugrunde -, Celans Text ihre fortdauernde Möglichkeit aber voraussetzen muss, um als Gedicht überhaupt noch möglich zu sein, so wird man zwar zugeben müssen, dass die Todesfuge das Grauen, von dem sie spricht, mit Notwendigkeit verfehlt; zugleich aber wird man diesem notwendigen Verfehlen einen hohen moralischen und ästhetischen Wert zuerkennen. Er ist bestimmt durch das volle Bewusstsein, welches das Gedicht selbst von der Unaufhebbarkeit dieses Widerspruchs besitzt. Im verdankt die Todesfuge ihren Titel und ihre Form. Beide wurden zu oft verkannt."
[Peter Horst Neumann: Schönheit des Grauens oder Gräuel der Schönheit? In: Geschichte im Gedicht. Texte und Interpretationen. Herausgegeben von Walter Hinck. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. Seite 230-237.]


Also: Der Kunst der Fuge gilt es auch nachzuspüren bei der Verstehensarbeit.

Fuge - mehrstimmiges Tonstück, bei dem ein Thema durch alle Stimmen in (strenger) Wiederholung durchgeführt wird: Der Fachausdruck der Musik ist in diesem Sinne seit dem 15. Jahrhundert bezeugt. Es ist aus it. fuga Wechselgesang, Kanon (lat. fuga Flucht = griech. phyge) entlehnt. Die Bezeichnung Fuge geht von der Vorstellung aus, dass die eine Stimme gleichsam vor der folgenden flieht.

Diese einfach gehaltene Erklärung scheint uns Lesern schon zwei Aspekte als Verstehenshilfe anzubieten. Flucht - Flucht in den Tod, Flucht vor dem Tod, Abfolge von Totem (wie etwa in „Häuserflucht"), all das lässt Bezüge zum Text zu, denen es nachzuspüren gilt, die man überprüfen kann.

Und dann ist da die musikologische Bedeutung. Beschäftigt man sich mit Johann Matthesons Lehrwerk zur Fugenkomposition [Mattheson (1681-1764) war einer der bedeutendsten deutschsprachigen Musiktheoretiker der Bachzeit], dann wird man genauer eingeführt in die Kunstform des imitierenden Stils, allerdings nicht als kontrapunktische Form, die in der Fuge des Barock auch eine viel weniger große Rolle gespielt hat, als oft behauptet wird. Auf der "Flucht" ist der "Dux", der Anführer. Verfolgt wird er von seinem "Comes", seinem Gefährten, aber auf angenehme Art, bis sie sich "endlich freundlich begegnen und vergleichen". Das ist eine irritierende Information, denn in der "Coda" des Celan-Gedichts wird uns sicher kein "krönender Abschluss" geboten, sondern etwas, das schwer auszuhalten ist.
 

dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith


Darüber gilt es, bei der eigentlichen Analyse genauer nachzudenken.

Aber weiter vorab: Warum nennt man die Kunst der Fuge "streng"? Weil sie dem Zeitalter der vorindividualistischen Musik entstammt, die einzelnen Stimmen sind zwar selbstständig, wichtig ist aber, dass sie unter der Vorherrschaft des Cantus firmus harmonisch verbunden werden. Nicht der individuelle musikalisch originelle Einfall und Ausdrucksstil ist entscheidend, sondern das Gefüge des Ganzen. Der Musiker des Barock tritt hinter sein Werk zurück, er versteht sich nicht als Genie, sondern als Diener (soli deo gloria - nur allein Gott zu Ehren). Seine Musik ist Abbild des Kosmos, der göttlichen Ordnung. Dennoch erscheint eine Fuge auch modern, denn sie ist "multiperspektivisch". Hört man eine Fuge (man denke etwa an Bachs bekannte Orgelfuge in G-Dur, BWV 541), so schreitet man wie um eine Skulptur herum, man nimmt verschiedene Perspektiven ein, das Licht wechselt. Das kann ein Hinweis darauf sein, in welcher Lesehaltung dem Gedicht begegnet werden kann.

Doch wie kann man etwa diese Bachfuge hören und dann Celans Text lesen? "Göttliche Ordnung" und Auschwitz - wie geht das zusammen?

Und es wird noch weit makabrer: In der Nazi-Ideologie spielte die Kunst der Fuge von Bach eine große Rolle. Mit den 20er Jahren setzte ein neuer Aufschwung der Bach-Rezeption ein, und die Nazis feierten ihn als größten Künstler aller Zeiten (vgl. Peter Schleuning: Johann Sebastian Bachs "Kunst der Fuge". Ideologien, Entstehung, Analyse. München: DTV 1993), die angestrebte Weltherrschaft der Nazis sollte neben Terror und Vernichtung auch die deutsche Kultur und ihre wichtigsten Exponenten „über alles" stellen helfen. Der „Meister" Bach wurde oft und gern in KZs gespielt, auf Anordnung des „Meisters" KZ-Kommandant. Bachs Werk - Ergebnis des jahrelangen Ringens eines frommen Mannes letztlich um die Findung Gottes durch, mit und in der Musik - war makabrerweise eines der zentralen Musikwerke der SS, sie verordneten allen diesen "Kunstgenuss", gespielt von Orchestern, deren ausgemergelte Musiker ihre letzten Kräfte mobilisierten, um überleben zu können (vgl. die Publikationen von Fania Fénelon, Milan Kuna und Szymon Laks in der Bibliographie).

Um Veränderungen in meinem Verstehensprozess an einem Beispiel zu zeigen, möchte ich zu Beginn der eigentlichen Interpretation auf Anfang und Ende des Gedichts eingehen: Las ich bei meiner ersten Begegnung mit dem Text die Überschrift letztlich "nur" als Verstehensanweisung zur Form, so erscheint sie mir jetzt viel komplexer. Sie ist auch ein einleitender Hinweis auf eine Sprechhaltung, auf die fast unerträglich anmutende Sprecherhaltung eines lyrischen Wirs. Im Gedicht sprechen die Opfer, entpersonalisiert, fast schon tot. Ihr Elend und Leid, ihre Hoffnungslosigkeit scheinen zu schreien nach starker emotionaler Expression, aber durch die Wiederholung in Varianten wirkt das, was sie sagen, eher gleichmütig, fast schon schicksalsergeben ("schenkt uns ein Grab in der Luft"). Aber eine Fuge ist eben ein entsubjektivierendes Formprinzip, das Grauen der KZ's spiegelt sich darin weit wirkungsmächtiger als in individueller Aussprache. Konsequent deshalb auch die Wahl des kollektiven Wir.

Die letzten beiden Zeilen schienen mir anfangs "nur" als starker Schlusskontrast. Zwei Frauenfiguren werden schlussendlich nochmal gegeneinander gesetzt, die stellvertretend scheinen für Deutsche und Juden. Da ist die Margarete mit dem goldenen Haar, der der KZ-Kommandant verlangend nach Hause schreibt - gleichzeitig der Verweis auf das Gretchen aus Goethes "Faust" -, auf der einen Seite, und auf der anderen Seite die jüdische Sulamith, der Inbegriff des Weiblichen im Hohelied, deren Haar zu Asche wird in den KZ-Krematorien - stellvertretend für Millionen von Opfern. Mir ist in diesem Zusammenhang auch schon mal die Interpretation begegnet, dass die zwingende Form auch auf das zwingende "Schicksal" verweist, Deutsche und Juden hätten eben so enden müssen, als Täter und Opfer.

Doch erscheinen mir heute die beiden Frauengestalten, beide geliebte Repräsentantinnen ihrer Kultur, eher beide als Opfer. In der Fuge gibt es die Engführung von Dux und Comes, und das bedeutet, übertragen auf das Gedicht, dass hier die Binnensicht aufgebrochen wird. Von den Opfern sagt Neumann, "sie werden exekutiert, indem sie Schönheit exekutieren"; ihr Gesang, der Kunst der Fuge folgend, zeigt, wie im KZ auch "Kultur" zum Opfer wird, durch äußerste Pervertierung. Sulamith und Margarete finden den Tod. Der "Kunst der Fuge" folgend greifen die Themen am Schluss ineinander, der Bau wird vollendet - ein Kontrast passt nicht zu diesem Konzept. Die kontrapunktische Betrachtung muss eher vorher ansetzen.

Diese Überlegung sollte auch leitend sein bei der Detailbetrachtung. Bei Neumann heißt es:
 

"Vor allem verbietet sich die isolierte Betrachtung einzelner sprachlicher Wendungen. Für jede von ihnen ließen sich jüdische, deutsche oder mythische Referenzen anführen. [...] Die Verbindung jüdischer und deutscher Bildvorstellungen hat ihren kontrapunktischen und geschichtlichen  Sinn. Durch das historisch datierbare Grauen hindurch wird auf Vorzeit und Mythos verwiesen. Nur auf dem Weg des Zitierens gelangt so auch 'Schönheit' in diesen Text."


Wichtige Formulierungen der Todesfuge entstammen schon dem Gedicht eines Jugendfreundes von Celan: Immanuel Weissglas schrieb sein Gedicht 1944. Auch das kann als Beleg dienen, dass Celan sein entsubjektivierendes Formprinzip über alles stellt, thematische und motivliche Originalität tritt dahinter zurück, gerade besonders "originell" anmutende Textstellen erweisen sich bei genauerem Nachforschen als "bloße Zitate".

Andererseits gibt es natürlich eine fast unüberwindbare Schwierigkeit. Die Musik kennt die Gleichzeitigkeit der Töne, Vielstimmigkeit. Sprache besteht immer aus nacheinander abfolgenden Zeichen. Nur im Bewusstsein eines hörenden Lesers kann das Gedicht erhoffen, zu jenem dissonanten Zugleich zu gelangen, welches es meint. Nur eine partiturmäßige Wahrnehmung würde der Todesfuge wirklich gerecht. Diese Einsicht bringt als Leseanleitung für den Text große Schwierigkeiten mit sich. Parataxe, nebengeordnete Sätze mit gleitenden Übergängen und Interpunktionslosigkeit sollen wohl anleiten zu einem Lesen, das eher stark "unterkühlend" distanziert sein sollte, denn jede Expression würde das Nacheinander der Zeichen betonen und den Partitureffekt im Kopf des Hörers ganz unmöglich machen. Ein solches Lesen wirkt aber außerordentlich befremdlich angesichts des Gegenstands des Gedichts. Die zentrale Paradoxie dieses Gedichts zeigt sich nirgendwo so deutlich wie im mündlichen Vortrag. Jeder Hörer muss eigentlich vorher ein bestimmtes Vorverständnis vermittelt bekommen, um kein Missverstehen aufkommen zu lassen. Aber Form, die erklärt werden muss, die nicht ihre Erklärung in sich trägt - ist das geglückt? Natürlich konnte Celan da bei seinen Zuhörern auf einen anderen Verstehenshorizont hoffen, aber z.B. seine eigene sprecherische Interpretation hat bestimmt Befremden ausgelöst. Ein formelhaftes Klangbild entspricht dem objektivierenden Formprinzip, verstößt aber angesichts des Themas gegen jede Hörererwartung. Und wer die Zitate nicht als solche erkennen kann - in hohem Maße ist das etwa bei dem berühmten Oxymoron zu Beginn gegeben, das wohl kaum jemand auf Anhieb als Verweis auf alte jüdische Traditionen entschlüsselt - der wird gerade dort zu expressivem Lesen "verführt".
Die Veränderungen im Vorverständnis, im Verstehensprozess generell kann man bei diesem Text daher besonders gut durch unterschiedliche sprecherische Interpretationen hörbar machen.

Nachdem ich bereits auf die Überschrift eingegangen bin, soll hier eine Detailbetrachtung des Gedichtes erfolgen.

Das Thema wird in den ersten vier Zeilen "intoniert". Fünfmal die Wiederholung des Prädikats "wir trinken" macht konnotativ auch ohne Entschlüsselung des Oxymorons deutlich, dass da Zwang und Gepresstsein hinter diesem "Trinken" stehen. Für jemanden, der nicht mit jüdischen Traditionen vertraut ist, entsteht "nur" eine Dissonanz im Oxymoron zwischen Milch, die im Alltagsbewusstsein durchweg positiv besetzt ist (Muttermilch, Milch der Weisheit) und hier entwertet und "verdorben" erscheint durch die Farbe des Todes. Erst die Beachtung der jüdischen Wurzeln dieses Oxymorons lässt hier die Deutung in voller Breite möglich werden.

Das kollektive Wir ist verurteilt zum „Trinken"; Tage und Nächte, der ganze Lebensablauf ist von diesem Vorgang geprägt. Kann der Mensch auf das Trinken als wichtigste Funktionssicherung körperlicher Vorgänge am wenigsten verzichten, so wird auch hier durch die konnotative Umkehrung - nicht Leben, sondern Tod wird "getrunken" - schon Unerträgliches transportiert, aber durch die Wiederholung auch monotonisiert.

Die Verbindung der vier Elemente Wasser, Luft, Erde und Feuer (Rauch) beginnt hier, wenn in der vierten Zeile mit der Periphrase "wir schaufeln ein Grab in den Lüften" auf die Krematorien verwiesen wird. Schwer auszuhalten, befremdend und aufstörend ist die anschließende Kommentierung. "Da liegt man nicht eng", nicht eng wie in den Schlafbaracken, nicht eng wie in der Erde - der Tod als Erlösung, der einem "geschenkt" wird (vgl. Zeile 33).

Die nächsten fünf Zeilen zeigen das Gegenthema der Fuge: Unpersönlich tritt uns der "Schlangenspieler" entgegen, der KZ-Kommandant. Er tritt uns entgegen durch Wiedergabe dessen, was er tut: er wohnt, er spielt, er schreibt - aber eben auch: er tritt, er pfeift, er befiehlt. Da sind sie, präsentiert durch schreckliche Versatzstücke: die unheimlichen beiden Seiten. In der Privatheit des Hauses, in Abendstimmung der heimwehkranke KZ-Kommandant, der sich nach dem goldenen Haar seiner Margarete bewundernd sehnt, wobei dieses goldene Haar Margaretes  ein Verweis auf etwas Allgemeines ist, gemäß dem Formprinzip der Entindividualisierung. Die eine Frauengestalt wird überhöht, romantisiert - der gleiche Mann tut anderen Frauen Unsägliches an. Mit dem Namen Margarete schimmert gleichzeitig das berühmte Gretchen im Faust auf - ein positiver Menschenentwurf Goethes, Gretchen nimmt den Rang einer exemplarisch Liebenden ein - genau wie Sulamith als Geliebte und Liebende des biblischen Hoheliedes exemplarischen Rang einnimmt. Trotz allen Gleichmaßes der Parataxen klingt das Unfassbare der Perversion deutlich an, wenn in der siebten Zeile nochmals summiert wird "er schreibt es". Da schreibt der deutsche Kulturmensch und dann verlässt er das Haus, tritt unter den Sternenhimmel  und "pfeift seine Rüden herbei". Die Hunde gehören zu seinen anderen Attributen: Eisen im Gurt, bleierne Kugel, blaue Augen. Und ihm sind alle unterworfen, er hat die absolute Befehlsgewalt über "seine Juden", er befiehlt auch das Aufspielen zum Tanz. Die Dissonanz zum Grabschaufeln, die assoziative Verbindung zum Breughel'schen Totentanz bereitet die Wiederaufnahme des Themas in Zeile 10 bis 13 vor.

Das Thema wird geringfügig variiert, zum einen wird das Satzobjekt gleichsam "angesprochen" - "wir trinken dich nachts" , das kollektive Wir hebt dadurch diese "schwarze Milch" noch stärker hervor. Zum anderen werden die Zeitadverbien in der Reihenfolge vertauscht, aber Anfang und Ende der Prädikatsreihe werden nach wie vor durch die "dunklen" Tageszeiten (abends und nachts) markiert.

In Zeile 14 und 15 wird das Gegenthema wieder aufgenommen und zwar in wörtlicher Wiederholung - wieder der Kulturmensch KZ-Kommandant, diese äußerste Irritation und Unfassbarkeit. Gegen dieses Motiv muss das Thema einfach wirkungsmächtiger weitergeführt werden. Es wird folgerichtig erweitert: In Zeile 15 erscheint das Motiv des aschenen Haares Sulamiths. Aus Gold wird Asche. Der Kontrast wirkt wie ein altertümliches Märchenmotiv. Doch erscheint durch die anschließende Wiederholung der Periphrase des Themas ("wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng") das Motiv kaum als Klageruf, eher als distanzierte Feststellung, Fazit. Jedem Missverständnis, durch die Nennung konkreter Frauennamen komme nun eine persönlichere Ebene in den Text und in das Geschehen, wird so vorgebeugt. Auch Sulamith ist ein Typus, eine Kulturrepräsentantin - dies allein ist ihre Funktion hier im Text.

Die Zeilen 16 bis 18 präsentieren den Zwischensatz oder die Episode der Fuge. Die Imperative in Zeile 16 und die Gegenüberstellung von den "einen" und den "andern" hebt das grauenhafte Nebeneinander von Grabschaufeln und Musik besonders hervor. Die Wahrnehmung des kollektiven Wirs befremdet: verständlich der Blick auf die Pistole im Gurt - entmodernisiert versprachlicht als „Eisen", verständlich die Wahrnehmung der Drohgebärde, die die Befehle begleitet - "er schwingts", aber dann "seine Augen sind blau". Diese Wendung wird später in Zeile 30 für die Konstruktion des einziges Reimes im Gedicht verwendet. Die blauen Augen, laut verquaster Rassenlehre Kennzeichen des "nordischen" Menschen, von altersher verbunden mit der Assoziation der Himmelsbläue, hier erscheinen sie kalt und gleichgesetzt mit äußerster Grausamkeit. Blau sind die Augen desjenigen der die Perversität der Gleichzeitigkeit von Befehlen wie schaufeln und singen und tanzen immer und immer wieder begeht (vgl. Zeile 18).

Nach dem Zwischensatz der Fuge beginnt die zweite Durchführung wieder mit dem Thema von Zeile 19 bis 21 und dem Gegenthema von Zeile 22 bis 23. Bei der Prädikatsreihe des Themas gibt es wieder nur die geringfügige Variation in der Reihenfolge der Zeitadverbien. Im Gegenthema erscheinen die verwendeten Versatzstücke weit isolierter als vorher, formelhafter in ihrer Wiederholung und Kombination. Gleichzeitig wirken die Zeilen mythologischer, "er spielt mit den Schlangen".

Der zweite Zwischensatz (Zeile 24-26) treibt das Zusammenspiel von sprachlicher Schönheit, Beschwörung des makabren "Kunstgenusses" und dahinter verborgener historischer Wirklichkeit aufs Äußerste. Anaphorisch werden die beiden Befehlssätze eingeleitet: "Spielt süßer den Tod", "streicht dunkler die Geigen". "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland" - vielfältigste Assoziationen sind hier möglich. In einem Gedicht, betitelt und dargeboten als Fuge, ist die Rede von Musik im KZ, Musik womöglich alter Meister, wie z.B. Johann Sebastian Bach. Und neben diese Meister der Kunst tritt ein weiterer Meister, der aus Deutschland stammt - der Tod. Die ganze Ahnenreihe berühmter deutscher "Meister" scheint entwertet, zunichte gemacht durch diese Tatsache. Denn das gleiche Volk, was sie hervorgebracht hat, beherrscht auch "meisterhaft" die Vernichtung. Gleichzeitig erscheint dieser Tod irgendwie überzeitlich, der konkreten grauenhaften Situation enthoben, der bekannte Sensenmann des Mittelalters. Die Vernichtungsperspektive erscheint wie einVersprechen, eine perverse Belohnung für die angestrengte musikalische Leistung - "dann steigt ihr als Rauch in die Luft/dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng", und so scheint es ja aus der Opferperspektive in Zeile 33 auch aufgenommen zu werden. Der ganze Reigen der vier Elemente ist jetzt abgeschritten, Wasser, Erde, Feuer und Luft.

In Zeile 27 beginnt die dritte Durchführung, der Kanon. Die Themen werden ineinander verschachtelt. Die Formel vom Tod als Meister aus Deutschland wird dabei dreimal wiederholt und im Bewusstsein der Leser und Hörer fest verankert. In Zeile 31 wird der Formelhaftigkeit noch einmal etwas entgegengewirkt. "Er trifft dich mit bleierner Kugel/er trifft dich genau", die Zeile stiftet den einzigen Reim des Gedichts und wird nochmal sehr konkret, auch durch die Anredesituation. Die dritte Durchführung endet mit dem Motiv des Schlangenspielers, der selber "träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland". Träumen ist das letzte Prädikat des Gedichts, das ist irritierend, verstärkt nochmal den häufig eintretenden surrealen Eindruck.

Zur Engführung oder Coda der letzten beiden Zeilen wurde weiter oben schon einiges gesagt.