Ingeborg Bachmann:
Über die Kunst
 
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Rede anläßlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden 1958:

»Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Der Schriftsteller - und das ist in seiner Natur - wünscht sich Gehör zu verschaffen. Und doch erscheint es ihm eines Tages wunderbar, wenn er fühlt, daß er zu wirken vermag. Umso mehr, wenn er wenig tröstliches sagen kann von Menschen, die des Trostes bedürftig sind, wie nur Menschen es sein können: verletzt, verwundet und voll von dem großen, geheimen Schmerz, mit dem der Mensch vor allen anderen Geschöpfen ausgezeichnet ist.

Es ist eine schreckliche und unbegreifliche Auszeichnung, Wenn das so ist, daß wir sie tragen und mit ihr leben müssen, wie soll dann der Trost aussehen und soll er uns überhaupt? Dann ist es doch - meine ich - unangemessen, ihn durch Worte herstellen zu wollen. Er wäre ja - wie immer er aussähe, zu klein, zu billig, zu vorläufig. So kann es auch nicht die Aufgabe des Schriftstellers sein, den Schmerz zu leugnen, seine Spuren zu verwischen, über ihn hinwegzutäuschen. Er muß ihn - im Gegenteil - wahrhaben und noch einmal, damit wir sehen können, wahrmachen. Denn wir wollen alle sehend werden. Und jener geheime Schmerz macht uns erst für die Erfahrung empfindlich und insbesondere für die der Wahrheit.

Wir sagen sehr einfach und richtig, wenn wir in diesen Zustand kommen, den hellen Wehen, in denen der Schmerz fruchtbar wird: „Mir sind die Augen aufgegangen". Wir sagen das nicht, weil wir eine Sache oder einen Vorfall äußerlich wahrgenommen haben, sondern weil wir begreifen, was wir doch nicht sehen können. Und das sollte die Kunst zuwegebringen: daß uns in diesem Sinn die Augen aufgehen.«