Die Todesfuge - Entstehung




siehe auch:

  • Theorie der Fuge

  • Die Todesfuge von Paul Celan entstand Ende 1944 / Anfang 1945 unter dem Eindruck der Judenvernichtung im Nationalsozialismus. Paul Celan, der selbst zeitweise in einem Arbeitslager der Nationalsozialisten interniert war, verarbeitet in seinem Gedicht nicht zuletzt den Tod seiner Eltern (vgl. auch die biographischen Anmerkungen zu Paul Celan). Obwohl spätestens April 1945 geschrieben, wurde die Todesfuge erst wesentlich später im gedichtband "Mohn und Gedächtnis" veröffentlicht. Der Veröffentlichung vorangegangen war zunächst eine umfassende Diskussion um die Frage, inwieweit Gedichte nach Auschwitz überhaupt möglich sind, ob nicht das Reden über Auschwitz in Form eines Gedichtes eine Ästhetisierung der Judenvernichtung bedeute. Aufgeworfen hatte diese Frage Theodor W. Adorno, der seine These - zunächst nur als mündliches Diktum aufgeworfen - in einem Aufsatz untermauerte:

    "Je totaler die Gesellschaft, um so verdinglichter auch der Geist und um so paradoxer sein Beginnen, der Verdinglichung aus eigenem sich zu entwinden. Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barberei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es möglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation."
    [Theodor W. Adorno: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. München 1963. Seite 26.]


    Nicht zuletzt durch Celans Todesfuge bewegt, änderte Adorno später seine Auffassung, was beinahe in einer Entschuldigung für seine Äußerung endete:

    "Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben."
    [Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970-86. Band 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. 1973. Seite 355.]


    Diese Ansicht Adornos wird inzwischen von den meisten Kulturkritikern geteilt, so dass Harald Weinrich 1976 in einem Artikel schrieb:

    "So wollen wir auch Szondi zustimmen, wenn er mit dem Blick auf Celan Adornos Satz abändert: Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz. Wir können seitdem vielleicht sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass heute in Deutschland wieder unbefangene Gedichte möglich sind, weil Celan mit seinem poetischen Werk unserer Befangenheit eine Sprache gegeben hat, die brüderlich vernommen und nachgesprochen werden kann. Wir sehen darin, jenseits aller vordergründigen Ästhetik, nicht nur eine moralistische und politische Haltung. sondern den Ausdruck einer fast messianischen Stellvertretung, die nach der Katharsis dieser Gedichte, wenn man sie beklommen gelesen hat, vielleicht Unbefangenheit wieder möglich macht auf Grund von Celan."
    [Die ZEIT vom 23.07.1976, Seite 38]




     

    Bereits sechs Monate vor der Todesfuge schrieb der rumänische Dichter und Schulfreund Celans Immanuel Weissglas ein Gedicht, das für die Entstehung der Todesfuge Pate stand:
     

    Immanuel Weissglas: ER

    Wir heben Gräber in die Luft und siedeln
    Mit Weib und Kind an dem gebotnen Ort.
    Wir schaufeln fleißig, und die andern fiedeln,
    Man schafft ein Grab und fährt im Tanzen fort.

    ER will, daß über diese Därme dreister
    Der Bogen strenge wie sein Antlitz streicht:
    Spielt sanft vom Tod, er ist ein deutscher Meister,
    Der durch die Lande als ein Nebel schleicht.

    Und wenn die Dämmrung blutig quillt am Abend,
    Öffn' ich nachzehrend den verbissnen Mund,
    Ein Haus für alle in die Lüfte grabend:
    Breit wie der Sarg, schmal wie die Todesstund.

    ER spielt im Haus mit Schlangen, dräut und dichtet,
    In Deutschland dämmert es wie Gretchens Haar.
    Das Grab in Wolken wird nicht eng gerichtet:
    Da weit der Tod ein deutscher Meister war.


     
    Arbeitsaufträge:
    1. Vergleichen Sie Celans "Todesfuge" mit Weissglas' "ER". Welche Gemeinsamkeiten und welche Differenzen können herausgearbeitet werden?
    2. Welche Gründe mag Celan gehabt haben, Motive, Bilder und Symbole des Gedichtes "ER" zu übernehmen, gleichzeitig aber die Beziehung und Kontextuierung der verschiedenen Motive zueinander zu verändern?
    3. Versuchen Sie zu erklären, auf welchen verschiedenen Ebenen die beiden Gedichte ihre jeweilige Wirkungsmächtigkeit entfalten!



     

    Die Todesfuge diente in der Folge als Vorbild und Ansatzpunkt für verschiedene Gedichte. Als Beispiel sei ein Gedicht von Hagen Apel aufgeführt, das die Todesfuge inhaltlich aufgreift:
     

    Hagen Apel: Deutscher. Traum
                - 1 -

    Der Deutsche von Damals liebte
    jetzt Blumen Er hatte
    seine Frau und Kinder das Haus
    war neu

    Der Deutsche von damals machte
    aus seiner Not über die Zeit
    einen Garten und züchtete neu
    nach Deutschem Muster die Blumen

    Die wuchsen so friedlich auf
    Deutschem Boden so friedhoflich
    über die Zeit in Deutschland
    die wuchsen

    Die wachsen
    Über die Zeit
    der Welt schon wieder
    zur Spitze Deutsche Gärten
    fragt man überall
    Kauft die Made aus Germanien
    tragt alle den Strauß
    Blumen aus Deutschland
    Nach Osten
    wachsen die Deutschen Gärten
    am Besten Der Deutsche von damals
    ist wieder
    wer

    Und der Deutsche von damals
    tritt vor das Haus und schaut
    seinen Garten die Blumen
    wachsen so friedlich in Deutschland
    da sieht er
    beim Graben den Gärtner
    den Gärtner beim Graben den Garten
    des Deutschen
    sieht er und
    träumt:

                - 2 -

    da sieht er

    Pole Jud
    schaufelt frei
    Majdanek Treblinka reißt auf
    den Garten da wachsen
    so friedlich die Deutschen
    Blumen die neuen Häuser
    zum Himmel dem Volke der Dichter
    und Denker auf Massengräbern
    ruht der Geist der Deutschen
    unsterblich

    Halt ein
    Pole Jud
    keiner hat's gewußt!

    Ein neues Haus steht
    auf Leichen die Blumen
    wachsen so friedlich in Deutschland
        Die Gräser der Fluren
        verdecken die Spuren
    Die Spuren der Mörder
    führen nach Deutschland

    Halt ein
    Pole Jud
    keiner hat's gewußt!

    Und sahen zu
    wo wir blieben
    und sahen zu
    wie die anderen
        schaufeln ein Grab in den Lüften
        da liegt man nicht eng ein Mann
        wohnt im Haus der spielt
        mit den Schlangen der schreibt
        der schreibt
        wenn es dunkelt nach Deutschland:
    Hab ich, Deutschland, verschlungen
    in Öfen zu Asche
    in Öfen zu Asche Majdanek Treblinka
    Drei Millionen Polen und Juden
    Und saßen hinter Blumen Fenstern
    und saßen in Häusern die Deutschen und
    sahen und schwiegen

    Pole Jud
    verbrenn die Zunge dir nicht
    sag Deutschland!

    Doch es wandeln im Garten jetzt
    des Deutschen die Toten Die Schatten
    der Opfer wachsen und
    pflücken zu Asche die Blumen

    Pole Jud
    verbrenn die Zunge dir nicht
    sag Deutschland!

    Doch es treten die Toten aus
    seinem Garten An's Fenster Jetzt
    in sein Haus wehen die Berge
    von Asche und der Mann der
    kommt aus Deutschland Er

        tritt vor das Haus
        sein Auge ist blau
        er pfeift seine Rüden herbei
        er pfeift seine Juden hervor

    und er treibt noch einmal
    in die Öfen die Asche
    und noch einmal die Toten in's Gas

                . . .

    Auf Massengräbern
    ruht der Geist der Deutschen
    unsterblich
    Verbrennt Euch die Zunge nicht
    sagt Deutschland!

    [Aus: die tageszeitung, 07.12.1979, Seite 9]

     
    Arbeitsaufträge:
    1. Versuchen Sie eine Intrepretation des Gedichtes "Deutscher. Traum" hinsichtlich inhaltlicher und formaler Aspekte!
    2. Welche Bedeutung kommt der Verarbeitung der "Todesfuge" innerhalb dieses Gedichtes zu?